„Astronomische Kosten für Rückbau“

MONTAGSINTERVIEW Betriebswirt: Abbau von Windrädern kann enorm teuer werden

Windenergieanlage im Wald: Unser Symbolbild zeigt ein Windrad im Wald im Raum Hann. Münden. Foto: Jens Döll

Waldeck-Frankenberg – Mit der Leistungsfähigkeit von Windenergieanlagen (WEA) sind in den vergangenen Jahren auch die Größen der Anlagen gewachsen. Diese Entwicklung lässt sich auch in Waldeck-Frankenberg nachvollziehen. Lag die Gesamthöhe vor 25 Jahren noch bei unter 100 Metern, so ragen heutige WEA mit einer Nennleistung von über fünf Megawatt bis zu 250 Meter in den Himmel. Damit die über 160 Meter hohen Türme sicher im Boden verankert sind, braucht es gewaltige Fundamente. Sie müssen ebenso wie die oberirdischen Anlagenteile nach Betriebsende zurückgebaut werden – sprich: aus dem Boden wieder verschwinden.

Der Grund dafür ist, dass Windräder nach dem Bundesbaugesetz privilegierte Anlagen im Außenbereich sind, also auf Wiesen, Äckern oder im Wald stehen.

Jan Eric Müller-Zitzke, Mitglied im Aktionsbündnis Märchenland – „Rettet den Reinhardswald“, befasst sich seit Jahren mit dem Thema Rückbau von Windenergieanlagen. Mit ihm sprach unser Redakteur Gerd Henke.

Herr Müller-Zitzke, die Betreiber von Windenergieanlagen müssen der öffentlichen Hand gegenüber versichern, dass sie für den vollständigen Rückbau ihrer Anlagen geradestehen werden. Welche Rolle spielt dabei die Sicherheitsleistung?

Damit der Rückbau auch wirklich verursachergerecht durchgeführt wird und am Ende nicht die Allgemeinheit auf den Kosten sitzen bleibt, weil die Betreiber sie möglicherweise unterschätzen, vermeintliche Gewinne entnehmen und am Ende insolvent werden, hat der Gesetzgeber vorgesorgt: Im Zuge der Genehmigung eines Windkraftprojektes muss die prüfende Behörde – das Regierungspräsidium Kassel – eine Sicherheitsleistung berechnen und einfordern.

Die Leistung muss so hoch sein, dass sie zu jedem Zeitpunkt bis zum Ende der Betriebszeit (hier wurden 30 Jahre beantragt) die Sicherheit für volle Kostendeckung bietet.

Dann ist doch alles in bester Ordnung.

Theoretisch – ja. Der hessischen Öffentlichkeit wird suggeriert, der spätere Rückbau von WEA sei auch im Fall einer Betreiberpleite finanziell gesichert. Nach meiner Wahrnehmung ist dies jedoch eine Täuschung. Denn die Praxis sieht ganz anders aus.

Aber ist nicht diese Sicherheitsleistung in Form einer Bankbürgschaft bei der Genehmigungsbehörde zu hinterlegen?

Das Problem dabei ist, dass die hessischen Ministerien für Umwelt und Wirtschaft vor über zehn Jahren in einem gemeinsamen Erlass eine geradezu absurd einfache Pauschalformel verfügt haben. Die lautet, dass pro Meter Turmhöhe nur 1000 Euro als Sicherheitsleistung von den Genehmigungsbehörden einzufordern sind: Für 18 Windenergieanlagen mit Höhen von 166 Metern bedeutet das knapp drei Millionen Euro. Das ist ein viel zu niedriger Ansatz, der jedoch immer noch Bestand hat.

Müsste diese Pauschalformel dann nicht überprüft werden?

Jedem sollte klar sein, dass die Formel für den Fall einer Pleitewelle der Windkraftbetreiber die Finanzen der hessischen Öffentlichkeit gefährdet. Wir halten sie in aktueller Form sogar für rechtswidrig, und wir rechnen damit, dass der alte hessische Formelerlass vor den Gerichten auch keinen Bestand mehr haben wird. In Niedersachsen wurde die gleichlautende Erlassformel übrigens durch Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg bereits abwertend infrage gestellt (Beschluss vom 13.10.2022 – 12 MS 188/21, Rn 65) bzw. vom Niedersächsischen Umweltministerium zuletzt sogar kassiert.

Sie sagen, dass zwischen der aktuell durch das RP Kassel bestimmten Sicherheitsleistung für die 18 WEA im Reinhardswald und den wahren, zu erwartenden Rückbaukosten Welten lägen. Wie kommen Sie darauf?

Wir haben die gesamten Rückbaukosten – auch diejenigen unterhalb der Bodenkante, die bisher leider weitgehend vernachlässigt wurden – von einem Tiefbauingenieur gegenrechnen lassen. Als Abteilungsleiter innerhalb eines mittelständischen Baubetriebs in Nordrhein-Westfalen und ausgewiesenem Experten für Erdbau, Bodenbewegungen und Infrastrukturbau beschäftigt er sich bereits seit Jahrzehnten mit zahlreichen öffentlichen Ausschreibungen für Großprojekte.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Danach bestehen 88 Prozent der Rückbaukosten aus den Kosten für den Fundamentabriss, die Rückbewegung des Bodenaustauschs unterhalb der Betonkante, den Rückbau der Tiefengründungen sowie vor allem die Rückbewegungen aller Erd- und Schottermassen. Wir reden hier über ca. 20 000 Kubikmeter stahlbewehrtem Beton sowie über mehr als 260 000 Kubikmeter an Boden- und Schotterbewegungen. Diese riesigen Massen müssen rückbewegt werden. Hinzu kommt der Rückbau der Tiefengründungen. Die Kosten sind astronomisch, erst recht in gut 30 Jahren.

Wie kommt es zu diesen großen Mengengerüsten?

Weil die Standorte im Reinhardswald zum Teil regelrecht abschüssig sind. Etliche Zehntausende Quadratmeter Fläche müssen in das erforderliche Planum, also in Waage, gebracht werden. Da sind wahrhaft massive Erdverschiebungen notwendig.

Können Sie konkrete Beträge nennen?

Im Ergebnis weist die 277 Seiten lange, differenzierte Gesamtrechnung einen Betrag von über 1,7 Millionen Euro aus – durchschnittlich pro Anlage, und nur für Fundamentabriss und Bodenbewegungen mit allem, was dazugehört an Baustellenvorbereitungen, Beprobungen etc. Zusammen mit dem Hochbaukörper, also Rotorblättern, Gondel und Turm, kommen wir auf über 1,9 Millionen Euro Rückbaukosten pro Windkraftanlage.

Was hieße das für den ganzen Windpark Reinhardswald?

Dass für den Rückbau mit Gesamtkosten von ca. 35,5 Millionen Euro zu rechnen wäre – nach heutigen Preisen und Werten.

Warum betonen Sie den Heute-Bezug?

Da der Rückbauzeitpunkt voraussichtlich in fernerer Zukunft liegt, müssen wir den Baupreisindex berücksichtigen. Der für das Vorhaben am besten geeignete Spezialindex entwickelte sich nach der Berechnung des Statistischen Bundesamtes in den Jahren von 2012 bis 2022 gemittelt auf 4,654 Prozent per anno. Er sollte aus Gründen kaufmännischer Vorsicht fortgeschrieben werden.

Über die genehmigte Betriebsdauer von 30 Jahren plus je einem Jahr Auf- bzw. Vorbereitung zum Abbau, also über 32 Jahre, werden die Rückbaukosten nach unserer Überzeugung geradezu explodieren.

Für den Aufbau einer entsprechenden Ansammlungsrückstellung hat der Investor dann aber doch viel Zeit.

Das ist richtig. Wir bezweifeln jedoch, dass in der Bewirtschaftungsrechnung für die 18 Anlagen im Reinhardswald der Aufbau einer solchen Kostenposition bisher ernsthaft berücksichtigt worden ist.

Mit welchem Rückbau-Gesamtbetrag muss denn Ihrer Meinung nach in 32 Jahren gerechnet werden?

In der Projektion und unter Berücksichtigung des eben und speziell für große Bauvorhaben genannten gemittelten Index‘ erreichen wir in der differenzierten Gesamtrechnung einen Betrag von ca. 152,2 Millionen Euro im Jahre 2056.

….und von welcher Summe gehen die Projektierer aus?

Das müssen Sie die Projektierer fragen. Wir hoffen, dass insbesondere die mit Haftungsmitteln beteiligten Betreiberkommunen sich sorgfältig haben Rechenschaft geben lassen von den Geschäftsführern über die voraussichtlichen Rückbaukosten. Wir befürchten jedoch, dass dort bisher von weit, weit geringeren Beträgen ausgegangen wird.

Kann denn dann überhaupt noch ein Gewinn übrig bleiben?

Die Bewirtschaftungsrechnung gemäß aktuellen Plänen der Windpark Reinhardswald GmbH & Co. KG kenne ich nicht. Dass sie nicht veröffentlicht wird, bedaure ich, respektiere dies jedoch selbstverständlich. Allerdings meine ich, dass mindestens die beteiligten Kommunen eine Neubewertung einfordern sollten, die diese massive Kostenposition berücksichtigt.

Wer zahlt im Insolvenzfall den Rückbau, wenn zu wenig Sicherheit hinterlegt ist?

Eine spannende Frage. Aus unserer Sicht wäre zunächst Hessen-Forst als sogenannter „Zustandsstörer“ dran. Doch die Dinge liegen komplizierter. Möglicherweise scheitert der bundesrechtlich geforderte Rückbau an klammen öffentlichen Kassen, oder es werden am Ende eventuell Kompromisse gemacht. Leidtragender wäre dann der Naturschutz bzw. die Öffentlichkeit.

Rechnen Sie damit, dass das Thema Rückbau in Hessen Wellen schlagen könnte?

Das hat schon begonnen. Medien und Politik werden aufmerksam. Der Hessische Landesrechnungshof setzt sich derzeit intensiv mit dem Rückbauthema auseinander und wird zum Jahresende eine Stellungnahme abgeben. Im Wind-Land Niedersachsen ist die gleichlautende Erlassformel „1000 Euro mal Meter Turmhöhe“ bereits Geschichte – ersetzt durch die Forderung an die Genehmigungsbehörden, sich ein vernünftiges Bild von der Höhe zukünftiger Rückbaukosten zu machen und die Nebenbestimmung entsprechend zu fassen.

Warum kommen Sie selber mit der Thematik erst jetzt heraus?

Was heißt erst jetzt? Bereits vor knapp vier Jahren haben wir das Thema der Rückbau-Sicherheitsleistungen im Zuge der öffentlichen Einwendungsphase differenziert in das Genehmigungsverfahren eingebracht. Dort hat man uns zu verstehen gegeben, die drei Millionen wären ausreichend. Dann haben wir kurz vor der Baugenehmigung Anfang Februar 2022 noch einmal ausdrücklich das RP Kassel aufgefordert, die zu erwartenden Rückbaukosten selbst zu ermitteln und so für den Ernstfall einer Betreiberpleite vorsorglich Schaden von der Öffentlichkeit abzuwenden. Die Antwort: Man habe beim Umweltministerium in Wiesbaden Rücksprache gehalten, und an der Erlassformel bestünde dort kein begründeter Zweifel. Wir waren fassungslos.

Was sind Ihre Erwartungen an die Betreiber und an die Politik?

Zum einen erwarten wir ganz allgemein von der hessischen Landesregierung, dass sie endlich – ebenso wie aktuell Niedersachsen – auf unbrauchbare Pauschalformeln verzichtet und die voraussichtlichen Kosten einer Ersatzvornahme realistisch am Projekt entlang und kaufmännisch vorausschauend unter Berücksichtigung aller Einflussfaktoren ermittelt. Dieser Betrag muss dann konsequent vom Betreiber verbürgt werden. So geht sichere Kostenplanung.

Was bedeutet ein solches Vorgehen für die beteiligten Kommunen?

Sie müssen an allen Winkraftstandorten sich Klarheit über die wahren Rückbaukosten verschaffen. Denn die ändern alles. Als Grundlage braucht es erst einmal überhaupt ein Rückbau-Konzept, das bisher fehlt. Die Kommunen müssen ein Konzept verlangen, das die wahren Kosten sorgfältig belegt. Im Reinhardswald hängt viel davon ab. Es ist eine Minute vor zwölf.

2024 WLZ 25. 11.