2024 WLZ 08. 07. Verantwortungsgefühl treibt ihn an

INTERVIEW mit Karl-Heinz Stadtler zu 25 Jahre Förderkreis Synagoge Vöhl

VON STEFANIE RÖSNER

Vöhl – Zum 25-jährigen Bestehen des Förderkreises Synagoge Vöhl sprechen wir mit dem Vorsitzenden Karl-Heinz Stadtler (72 Jahre).
Zum Jubiläumswochenende 12. bis 14. Juli werden 15 Nachfahren von Juden, die einst in Vöhl lebten, erwartet. Sie stehen persönlich mit diesen Menschen in Kontakt, die vorwiegend aus den USA anreisen, aber auch aus Israel und Hamburg. Was bedeutet Ihnen das, dass sie diese weiten Reisen auf sich nehmen?
Ich bin begeistert und freue mich sehr. Ich habe alle schon vor vielen Jahren kennengelernt. Sie sind inzwischen zu Freunden geworden, zu Freunden nicht nur von meiner Frau und mir, sondern auch des Förderkreises insgesamt.
Einer ist Michael Dimor, der zum Fest erwartet wird. Welchen Bezug hat er zu Vöhl?
Michael Dimor ist der Enkelsohn des Vöhler Juden Moritz Mildenberg und seiner Frau Helene. Er kommt jetzt als 87-Jähriger nach Vöhl. Seine Großmutter war mit einer Tochter zu Beginn der NS-Herrschaft in die Niederlande emigriert. 1938 besuchte sie ihre Tochter Else, die Mutter Michaels, die nach Palästina emigriert war. Es ist kaum zu fassen. Anschließend reiste die Großmutter zurück in die Niederlande und wurde von dort mit ihrer Tochter, deren Mann und kleinem Sohn nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Es ist sicher immer ein emotionales Erlebnis, wenn solch ein Kontakt zustandekommt?
Ja, das ist es. Ich kann mich sehr gut an den ersten Besuch von Michael Dimor und seiner Frau in Vöhl erinnern, als sie in Sachsenhausen auf dem Friedhof standen, weil Michaels Großvater dort 1945 Sachsenhausen gestorben ist. Wir hatten auch ein großes Treffen mit alten Leuten in Sachsenhausen organisiert, die sich noch an seinen Großvater erinnern konnten. Wir sind mit ihm auch zum Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen – heute Arolsen Archives – gefahren. Und er konnte dort die Dokumente von seinen Verwandten sehen, die Opfer des Holocausts geworden sind. Das war unheimlich bewegend.
Mit welcher Vertrautheit begegnen Ihnen die Menschen, die schlechte Erfahrungen mit dem Deutschen Reich gemacht haben?
Im September 2000 waren zwei Ehepaare unter den Besuchern in Vöhl. Einer der jeweiligen Partner hatte im Haus neben der Synagoge gewohnt. Sie wollten nicht nach Vöhl kommen – auf keinen Fall noch einmal zurück nach Deutschland. Aber wir hatten einen sehr regen E-Mail-Austausch, in dem ich sie davon überzeugen konnte, dass Deutschland heute anders ist, dass wir anders sind. Und schließlich sind sie gekommen. Wir haben uns am Flughafen in die Arme genommen.
Ist Deutschland heute wirklich anders?
Ja! Trotz der aktuellen Diskussion um Antisemitismus. Das, was unter dem Begriff läuft, ist oft Kritik an der gegenwärtigen Politik Israels. Da geht es zum einen um die Innenpolitik, bei der man den Eindruck hat, dass sich Israel zum Beispiel in einer Weise entwickelt, die nicht mehr unbedingt als demokratisch bezeichnet werden kann, weil zum Beispiel die Rechte der Justiz beschränkt werden sollen. Das ist ein Problem, über das auch in Israel diskutiert wird. Und wer da die israelische Regierung kritisiert, ist nicht Antisemit. Ähnliches gilt in Bezug auf den Gazakrieg. Selbstverständlich ist es in Ordnung, wenn sich Israel gegen einen solchen Angriff wie dem furchtbaren Terroranschlag der Hamas im Oktober 2023 wehrt. Aber es muss die Frage erlaubt sein, ob die Art und Weise, wie das geschieht, gerechtfertigt und notwendig ist und ob es nicht andere Wege gegeben hätte, das Ziel – die Zerschlagung der Hamas – zu erreichen.
Die antisemitisch motivierten Gewalttaten in Deutschland sind mehr geworden.
Ich möchte Antisemitismus auch nicht relativieren, sondern deutlich machen, dass nicht alles, was Antisemitismus genannt wird, Antisemitismus ist. Wir haben in der Synagoge bereits drei Veranstaltungen über die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Palästinensern gehabt. Damit müssen wir uns thematisch befassen.
Welchen Auftrag hat der Förderkreis aufgrund der aktuellen Entwicklungen? Welchen Stellenwert haben die Erinnerung an die Vergangenheit einerseits und Debatten über die Gegenwart andererseits?
Vor allem in Bezug auf die Gegenwart müssen wir uns fragen, warum es in Staaten mit gemischten Bevölkerungsgruppen immer wieder zu Problemen kommt. In Deutschland hat es lange Zeit ein gutes Zusammenleben zwischen Juden und Christen gegeben. Dann hat es aber auch immer wieder Rückschläge gegeben. Es gilt darüber nachzudenken, in welchen sozialen und wirtschaftlichen Situationen es zu Problemen zwischen Mehrheiten und Minderheiten kommt.
Sie persönlich investieren viel in die Arbeit als Vorsitzender des Förderkreises. Was treibt Sie an?
Das Wichtigste ist für mich das Verantwortungsgefühl in Bezug auf deutsche Geschichte und auch in Bezug auf das Dorf Vöhl. Ich glaube, es ist wichtig, diese Arbeit hier zu machen. Ich merke ja auch die unheimlich große Resonanz.
Über die Gründung des Förderkreises Synagoge Vöhl, über dessen Engagement im Bereich Jugendbildung und über weitere Pläne des Vereins spricht Stadtler im Podcast „Erzählmodus“: abrufbar über den QR-Code sowie online auf Youtube und Spotify.

Plötzlich unter goldenen Sternen
Zeitzeugenbericht vom ersten Besuch in der Vöhler Landsynagoge 1994
VON KARL-HERMANN VÖLKER

Im Juli 1994 durfte eine Gruppe junger Lehrkräfte das Denkmal in Vöhl betreten. Sie fanden eine gut erhaltene Frauenempore über dem einstigen Betsaal der Männer vor. Foto: Karl-Hermann Völker

Vöhl Mein ganz persönlicher erster Eindruck von der Synagoge in Vöhl ist schon 30 Jahre alt: Es war ein Tag im Juli 1994, als ich mit einer Gruppe Referendarinnen vom Studienseminar Korbach zum ersten Mal das von außen so unauffällige Fachwerk-Wohnhaus in der Vöhler Mittelstraße betrat. Wir standen unter der gewölbten blauen Decke mit goldenen Sternen, mitten im ehemaligen jüdischen Betsaal mit umlaufender Frauenempore und Thora-Nische.
Welch unerwartete Atmosphäre! Seit Jahrzehnten war der Raum nur noch als Lager oder zum Wäschetrocknen genutzt worden.
Eine alte Dame wohnte ganz allein im Wohnteil der ehemaligen Landsynagoge. Sie hatte nur wenige Außenkontakte, noch nie hatte jemand offiziell den ehemaligen Synagogenraum auf seine Bedeutung als Denkmal hin angeschaut. Eine Lehrerin aus unserer Seminargruppe, ihre Nichte, hatte sie gefragt, ob wir uns bei unserer „historischen Spurensuche“ durch Vöhl auch den großen Raum der Synagoge ansehen und Fotos machen dürften.
Auf den Brüstungen der Frauenemporen entdeckten wir handgeschriebene Ziffern, fest vergebene Platznummern, ähnlich wie auf den Kirchenbänken von Oberorke, außerdem ein gitterartiges Stück Sichtschutz vor einem Platz auf der Frauenempore, unter einem Mond in der Mitte des Sternenhimmels ein Kreuz aus schweren Eisenbändern, an denen früher der Synagogenleuchter gehangen haben musste. In diesem Bethaus hatte die jüdische Gemeinde Vöhl bis zu ihrer Ausrottung unter dem NS-Regime den Sabbath gefeiert, es dann aber rechtzeitig an eine nichtjüdische Familie verkauft, sodass es der Vernichtung in der Pogromnacht 1938 entging.
Heimgekehrt, schrieb ich einen Brief an den damaligen Bürgermeister Harald Plünnecke: Sollte jemals dieses Kulturdenkmal verkauft werden, müsse die Gemeinde Vöhl unbedingt von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machen. Der Bezirksdenkmalpfleger Prof. Michael Neumann in Marburg erhielt am 8. August 1994 alle meine Fotos vom Inneren des Synagogenraums – die ersten, die es bisher gab. Er erkannte den Wert des Denkmals und schaltete sich im Juni 1999, als das Gebäude nach dem Auszug der letzten Bewohnerin frei wurde, auch beherzt ein. Er appellierte an die Gemeinde Vöhl, ihr Vorkaufsrecht auszuüben: „Ich denke, dass die Restaurierung der Synagoge dem Ansehen der Gemeinde in seiner verpflichtenden Rolle für eine geschichtsbewusste Aufarbeitung der Vergangenheit sehr zum Ansehen gereichen würde.“ Er stellte eine Soforthilfe von 50000 DM in Aussicht.
Der Antrag von SPD und Grünen wurde im Oktober 1999 in der Gemeindevertretung abgelehnt. Der Geschichtsverein Itter-Hessenstein blieb treibende Kraft. Mehr als 200 Bürger gründeten einen Förderkreis und kauften das Haus, renovierten es mit der nötigen Weitsicht. Michael Neumann stand als Ratgeber und Förderer in allen Bauphasen eng an ihrer Seite und schrieb an Kurt-Willi Julius: „Der Raum ist so wunderschön in seinen Proportionen und hat einen derart angenehmen ‚Kammerton’, dass man hier ein kulturelles – musisches – literarisches – musikalisches Zentrum schaffen sollte, das sich über das Thema Landjudentum hinausbewegen könnte.“ Neumann, der 2003 verstarb, erwies sich damit als wirklicher Visionär.