2024 WLZ 09. 08. WAHL’SCHE CHRONIK  Fundgrube für Familienforscher online verfügbar Einblicke in ein leidvolles Leben

Stadtarchivar Wolfgang Kluß (links) und der stellvertretenden Leiter der Landesbibliothek Kassel, Dr. Timo Kirschberger, mit der jetzt online gestellten maschinenschriftlichen Abschrift der Wahl’schen Chronik. Fotos: Stadtarchiv Korbach /pr
Das Korbacher Stadtarchiv hat ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument digitalisieren lassen: Die maschinenschriftliche Abschrift der Wahl’schen Chronik ist jetzt online verfügbar.
Korbach – Ein Reitertrupp, ungefähr 200 Mann stark, habe „die Thore uffgehawen“ und auf der Burg und in den Häusern „Pferde, Kühe, Speck, Kleider, Leinwand, Kramwahr. Silbergürtel, güldene Ringe, Barschaft, im Wert von über 20 000 Reichsthaler“ geplündert, vermerkt der Rhodener Pfarrer Zacharias Wahl am 16. Juni 1632 in seinem Tagebuch.
Es ist eine von hunderten von Tagebuchnotizen, die über das leidvolle Leben der Menschen im Waldecker Land im 30-jährigen Krieg informiert. Doch berichtet der zunächst in Bringhausen, später in Rhoden tätige Pfarrer bunt gemischt über alle ihm erzählenswert erscheinenden Ereignisse wie Unfälle, Morde, Raubüberfälle, Missgeburten, Alkoholmissbrauch, Unzucht, Sodomie, Krankheiten, Epidemien und so weiter.
„Die in der Zeit von 1617 bis 1687 geführten Aufzeichnungen sind eine der wichtigsten historischen Quellen, aus denen wir heute authentische Informationen über das Leben der Menschen im 17. Jahrhundert in unserer Region schöpfen können“, verweist der Korbacher Stadtarchivar Wolfgang Kluß auf die Bedeutung der Aufzeichnungen.
So interessant und spannend die 283-seitige Chronik auch sei, konnte sie aber bisher praktisch nicht gelesen und genutzt werden, erklärt der Stadtarchivar. Zwar sei das in der Bibliothek der Alten Landesschule in Korbach befindliche Original schon 2020 online gestellt worden, doch seien die in theologischer Handschrift geschriebenen und nach 400 Jahren schon verblassten Aufzeichnungen selbst von Schriftexperten nur sehr schwer entzifferbar.
Von der maschinenschriftlichen Übersetzung, die der damals in Korbach wohnende Reinhardt Brandt zusammen mit seinem Sohn in den 1950er Jahren gefertigt habe, gebe es nur drei Exemplare. Eines davon befinde sich im Stadtarchiv. „Erfreulicherweise ist nunmehr unser maschinenschriftliches Exemplar von der Universitäts- und Landesbibliothek Kassel digitalisiert und auf ihrer Online-Plattform „ORKA“ für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden“, freut sich Wolfgang Kluß. Es lohne sich nicht nur für Heimat-und Familienforscher, einen Blick in die spannende „große und kleine Welt des Zacharias Wahl“, wie es sein Vorgänger Hans-Rudolf Ruppel in einem Aufsatz mal formuliert habe, zu werfen.
Mit der Onlinestellung der maschinenschriftlichen Abschrift der Chronik könnten Familienforscher, so der Korbacher Stadtarchivar, jetzt auch auf das von Reinhardt Brandt erstellte Verzeichnis der in der Chronik erwähnten Namen mit über 1300 Namen zugreifen. Das Verzeichnis sei deswegen besonders informativ, weil Zacharias Wahl die Namen stets in Zusammenhang mit speziellen Ereignissen nennt. Ähnliches gelte für das von Reinhardt Brandt ebenfalls erstellte Verzeichnis der in der Chronik genannten mehr als 500 Orte, das mit Adorf beginne (auf 17 Seiten erwähnt) und mit Züschen ende (auf 12 Seiten genannt). Arolsen werde auf über 70 Seiten, Bad Wildungen auf über 90 Seiten und Korbach auf über 100 Seiten erwähnt.  red

Geschichten aus dem Alltag aufgezeichnet

Die Wahl’sche Chronik gibt einen Einblick in das Alltagsleben der Menschen im 17. Jahrhundert.

Es gebe wohl kaum ein Ereignis aus dem Alltagsleben, das der Pfarrer in seinem Tagebuch nicht erwähnt, erzählt Kluß. Selbst der übermäßige Alkoholverzehr seiner Zeitgenossen beschäftigt ihn immer wieder:
Der „Jacob Barke zu Volckmarsen“ habe mit Adrian, dem Krüger so „starck Branntwein gedruncken“, dass er des „morgens gestorben“ sei, notiert er beispielsweise. Und an anderer Stelle heißt es: Dem Schäfer Bernhard sei „beim Bier in Winken Haus in die rechte Seite in die Rippen gestochen“ worden, sodass die „Därme dick aus der Wunde herausgedrungen“ seien. Resignierend notiert Wahl später, dass – nachdem er von der Kanzel „wider das Saufen“ gepredigt habe – das Saufen „von dero Zeit mehr als sonst jemals zugenommen“ habe.
Die Chronik gibt auch einen interessanten Einblick in die mehr oder weniger erfolgreiche Arbeit der Heilkundigen. Aus heutiger Sicht bemerkenswert, dass, wie zu lesen ist, etwa von einem Oculist aus Uslar der „Sybille Busch, senior“, aus Orpe der „Star gestochen“ worden sei oder der Barbierchirurg Grosning von Wildungen einem 20-jährigen Mädchen, das vier Jahre vorher die Sprache verloren hatte und deswegen betteln musste, die „Zunge gelöset habe“. Ferner habe der Bruchsschneider Henning dem 25 Wochen alten Curth Volckmar den Bruch „uff dem linken Bein geschnitten“.
Doch viel Eingriffe waren auch nicht erfolgreich. So berichtet Wahl, dass nach einem Sturz der schwangeren Frau des Hartmann Uffeln vom Kirschbaum die „gantz uffgeschluppten“ und „um sie herumgehangenen Eingeweide“ vom Chirurgus in Milch und Wein gewaschen und wieder in den Leib getan worden seien. Sie sei aber gestorben, ebenso wie zwei von einem „Balbierer“ behandelten beiden „hart beschädigten Weiber“, die von einem Wolf angefallen worden waren.
Notiert sind in der Chronik des Pfarrers aber auch extreme Wetterereignisse, Missernten, Mäuse- und Fröscheplagen sowie die Bedrohung durch Wölfe, Viehsterben und schwere Feuersbrünste, auch die 1664 in Korbach. Penibel berichtet er zudem auch über alle Geburten, Eheschließungen und Beerdigungen, auch über den Tod von fünf seiner 13 Kinder.
Die Wahl’sche Chronik gilt auch als eine der wichtigsten Quellen über die vielen Hexen- und Zaubererprozesse in Waldeck. Als Zeitgenosse findet es der Pfarrer offensichtlich ganz in Ordnung, dass die gottlosen Menschen, die sich mit dem Teufel eingelassen haben, verbrannt werden. Denn mehr als ein „Gott gebe ihnen bußfertige Erkenntnis ihrer Sünden“ hat er an Zuwendung für die zuvor mit Folter und Wasserprobe gequälten und zum Geständnis gezwungenen Opfer nicht übrig. Zweifel kamen ihm selbst dann nicht, als seine Schwägerin und sein Schwiegersohn in Wildungen wegen Hexerei hingerichtet werden.  red

Kontakt: Stadtarchiv Korbach, Tel. 05631/5015987, Internet: orka.bibliothek.uni-kassel.de