2023 WLZ 20. 10. NEUES VERKEHRSKONZEPT EDERSEE  

Rege geführter Online-Bürgerdialog „Wie fühlt sich die Randstraße für Sie an?“

VON MATTHIAS SCHULDT

Krach, ausgelöst durch eine Minderheit, war und ist ein Riesenproblem, waren sich alle einig. Foto: Conny Höhne/Archiv

Rund 70 Interessierte schalteten sich zum Online-Bürgerdialog „Edersee-Verkehrskonzept“ zu. Zwei Stunden später freuten sich alle Beteiligten über eine sachliche Debatte, reich an wertvollen Hinweisen und Ideen.

Edersee „HessenMobil muss und wird die Ederseerandstraße zwischen Hemfurth und Nieder-Werbe in den nächsten Jahren sanieren“, beschrieb Professor Dr. Jörg Felmeden von der federführenden Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Edersee-Verkehrskonzept die Ausgangslage. Sperrungen während der Bauzeit seien unausweichlich. Lässt sich aus der Not eine Tugend machen in Gestalt eines Modellprojektes, das Erkenntnisse liefert für mögliche positive Änderungen am Edersee-Verkehr? „Zugleich gestalten wir auf diese Weise Zeiten von Sperrungen vielleicht erträglicher für die Anrainer“, hofft Felmeden.

Bessere Straße denkbar?

„Wir sind ganz am Anfang“, stellte Susanne Paulus vom Landkreis dar, der die ARGE beauftragt hat. Kreis und Arbeitsgemeinschaft wollen zusammen mit Anrainerkommunen, Tourismuswirtschaft und Bürgerschaft herausfinden, ob aus Sicht der Einheimischen die heutige Ederseerandstraße „eine perfekte, wunderschöne Straße, passend zur Landschaft ist. Wie fühlt sie sich an für alle Anwohner einschließlich alter Menschen und Kinder? Oder wäre eine bessere Straße denkbar?“, beschrieb Professor Dr. Stefanie Bremer von der ARGE die offene Herangehensweise ans Thema.

Schwachstellen am heutigen Zustand haben die Fachleute untersucht. In ihren Wortmeldungen deckten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Bürgerdialog im Wesentlichen dieselben Mängel auf und ergänzten die Liste.

Der Lärm

größtes Problem für Erlebnisqualität und Tourismus wurde unisono der Verkehrslärm benannt – ausgelöst vor allen durch eine laute Minderheit an Auto- und Motorradfahrern, die sich zudem nicht an Tempolimits und Überholverbote halte und die Sicherheit gefährde, wie der Waldecker Jochen Haase berichtete. Er fährt als ehrenamtlicher Sanitäter von promedica in der Saison Motorrad-Streife am See, „weil Rettungswagen im Notfall oft kaum durchkommen.“

Die Radweg-Lücken

Lücken und Mängel an vielen Stellen im Netz des Öffentlichen Personennahverkehrs und der Radwege sind ein zweiter Schwerpunkt in der Analyse der Defizite. Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit: veraltete oder fehlende Radwege zwischen Terrassenhotel und Hemfurth, Asel-Süd und Herzhausen, Nieder-Werbe und Scheid. Für letztgenannte machte Susanne Paulus vom Kreis Hoffnung: „Wir sind dran und klären die Frage von Fördergeldern.“

Patrick Böttcher (Waldeck) lenkte den Blick auf bessere Radverbindungen zum Ortsteil: besonders in Richtung Edersee, auf der anderen Seite aber auch hinunter zum Edersee-Bahnradweg; beide Strecken ein Muss angesichts des wachsenden Pedelec-Verkehrs, war er sich mit anderen Teilnehmern einig.

Löcher im Bus-Netz

Wer auf einem der langen, attraktiven Wanderwege in der Edersee-Region unterwegs ist und für den Rückweg auf Bus, Bahn oder Anruf-Sammeltaxi setzt, ist an vielen Stellen am Edersee aufgeschmissen, kritisierte die Edertalerin Susanne Wardin-Kreysing, ebenfalls am Beispiel Asel-Süd. Zu selten fahren Busse, zu undurchschaubar, umständlich, unkomfortabel aus Sicht des Fahrgastes ist das Gewirr von Verbindungen in Kombi mit Bahn oder Anruf-Sammeltaxi.

Auf ein Denken in zu engen ÖPNV-Grenzen wies der Waldecker Uwe Neuschäfer hin: „Täglich fahren 22 Busse des NVV zwischen Kassel und Naumburg – aber es gibt keine einzige Verbindung über die acht Kilometer bis nach Netze und von dort aus an den Edersee für das große Einzugsgebiet der Kasseler Tagesbesucher.“

Informations-Chaos

Die Angebote von Nordhessischem Verkehrsverbund (NVV) und Deutscher Bahn seien nicht synchronisiert und würden nicht gemeinsam kommuniziert, ergab ein weiterer Hinweis aus dem Online-Publikum. Wer etwa am Nationalparkbahnhof Herzhausen lande, erhalte nicht mal Zugriff aufs Internet, um sich über weitergehende Verbindungen zu informieren. Damit war ein weiterer, großer Mangel angesprochen: kein flächendeckendes, freies WLAN am Edersee, über das sich Informationen abrufen ließen.

Staus und Parknot

Last not least beschäftigen Staus und Parkplatzmangel zu Stoßzeiten diejenigen, die sich am Edersee auskennen. Suchverkehr, der zu Frustrationen führt beim Pendeln zwischen den Hauptattraktionen, endloses Warten, um vor allem aus Richtung Kassel über Fritzlar an den See zu kommen: All das führt dazu, dass die meisten Einheimischen an sonnigen Wochenenden oder Feiertagen während der Saison den See meiden, fasste Stefanie Bremer eine zentrale Aussage mehrerer Wortmeldungen zusammen.

Ideen für „ein einziges großes Naherholungsgebiet“

Der „Motorisierte Individualverkehr“ mit Motorrädern und Autos dürfe keinesfalls eingeschränkt werden, um den Tourismus wie hier am „Zündstoff“ in Hemfurth nicht zu gefährden, lautete eine Forderung im „Bürgerdialog“. Foto: Matthias Schuldt

Eine große Fülle an Ideen offenbarte sich beim Online-Dialog, gesammelt von der Arbeitsgemeinschaft und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Den Straßenraum neu aufzuteilen, den Autos und Motorrädern Platz wegzunehmen zu Gunsten anderer Verkehrsteilnehmer, ist ein Ansatz der Planer, der Skepsis auslöste.

Kritik an Einbahnstraße

„Eine Einbahnstraße würde weite Umwege auslösen und höhere Belastungen für Waldeck“, meinte Wolfgang Schumann. „Natürlich darf keine Lösung mehr Verkehr hervorbringen“, entgegnete Stefanie Bremer, die meinte, dass der Wissenschaft im Elfenbeinturm „jede dämliche Idee“ zugetraut werde. Uwe Neuschäfer hält eine Einbahnstraße ebenfalls für kontraproduktiv mit Blick auf dringend notwendigen Busshuttle-Verkehr am Edersee, der in alle Richtungen unterwegs sein müsse.

Shuttleverkehr-Ansätze

Ein enger Takt solcher Angebote, die im Idealfall kostenlos wären, zählt nach übereinstimmender Ansicht zu den zentralen Voraussetzungen für Verkehrsentlastung am Edersee. Einen solchen Shuttleservice können sich viele zudem in Gestalt von Booten auf dem Edersee oder in Form einer Seilbahn vorstellen, die über der Randstraße verläuft. Autonome Fahrzeuge, ob zu Wasser oder zu Lande, spielen für die Zukunft angesichts des Fachkräftemangels in den Augen Vieler eine wichtige Rolle.

Für Rad- und Pedelecverkehr ebenso wie für Touristen, die mit dem ÖPNV anreisten, seien „amerikanische Busse“ eine vielversprechende Idee, in denen sich vom Rad bis zum Faltboot Ausrüstung mitführen lasse. Schließfächer, um Gepäck sicher unterzubringen, sichere Abstellplätze fürs Pedelec, ein Netz von Ladestationen und Ähnliches wurden als Anregungen gesammelt.

Kreisel statt Ampel?

Stadtrat Bruno Arlt (Waldeck) nahm die Edertaler Staus in den Blick: „Die Ampel in Hemfurth könnte vielleicht durch einen Kreisverkehr ersetzt werden, um weniger Staus zu haben.“ Die Idee gab es vor Jahrzehnten bereits. Damals hieß es, der Platz reiche nicht aus, „doch die Richtlinien haben sich geändert“, sagte Jörg Felmeden.

Neue, kostenlose Park- and Ride-Plätze im Vorfeld des Edersees, kombiniert mit hohen Parkgebühren am Edersee direkt und Bevorzugung von Gastronomie-Kundschaft auf den Parkflächen am See könnten den Autoverkehr eindämmen hieß es. Problem dabei: Wo die P+R-Flächen einrichten, ohne dass Orte an den Haupteinfallstrecken noch stärker belastet werden?

Positives zum Status quo

Während Susanne Wardin-Kreysing – in Kombi mit massivem Ausbau des ÖPNV – Sperrungen für den Motorisierten Individualverkehr (MIV) von Autos und Motorrädern nach dem Vorbild von Königssee oder Oberstdorf für nötig hält, setzt Susanne Danz von „Aktives Waldeck am Edersee“ auf Anreize und Freiwilligkeit, das Auto stehen zu lassen. Sie gab generell aber auch zu Protokoll: „Außer zu Stoßzeiten läuft es mit der Ederseerandstraße doch ganz gut. Die Situation ist besser als früher.“

Eine andere Stimme formulierte die komplette Gegenposition: Der MIV dürfe mit Blick auf den Tourismus und seine Einnahmen „auf keine Weise eingeschränkt werden.“ Den Erhalt der Wertschöpfung habe die ARGE bei allen Überlegungen zu Änderungen am Verkehr im Blick, antwortete Planerin Stefanie Bremer.

Neues See-Verständnis

Der Waldecker Stadtverordnete Martin Germann warb bei der Veranstaltung für ein neues Verständnis am und vom Edersee: „Der Platz unten am Ufer ist nun mal begrenzt. Die neuen Radwege der letzten Jahre rund um den Edersee haben aber schon die einzelnen Anziehungspunkte des Tourismus zusammenwachsen lassen. Wir sollten den See und seine Ferienregion zu einem einzigen großen Naherholungsgebiet weiter entwickeln.“  su