2023 31. 07.  „Ausstieg aus Erdgas nicht plötzlich“

MONTAGSINTERVIEW Netz-Experte über die Wasserstoff-Versorgung der Region

VON BASTIAN LUDWIG

Waldeck-Frankenberg – Grüner Wasserstoff ist der große Hoffnungsträger bei der beabsichtigten Energiewende. Doch werden wir in Nordhessen in absehbarer Zeit überhaupt mit Wasserstoff versorgt werden können? Darüber sprachen wir mit Dennis Wehmeyer, Bereichsleiter für Wasserstoff und Nachhaltigkeit beim Kasseler Fernleitungsnetzbetreiber Gascade.

Herr Wehmeyer, wann ist mit einer Wasserstoffversorgung zu rechnen?

Wir sind dabei, verschiedene Wasserstoffprojekte zu entwickeln. Dazu zählen auch große Offshore-Projekte in Nord- und Ostsee. Diese sollen Teil einer europäischen Wasserstoff-Transportinfrastruktur werden, die gerade entwickelt wird. Auf dem deutschen Festland realisiert Gascade aktuell das Projekt „Flow“ gemeinsam mit Partnern. Dafür wollen wir bestehende Erdgaspipelines umrüsten, die bis zum Ukraine-Krieg russisches Erdgas von der Ostseeküste durch die ostdeutschen Bundesländer bis nach Hessen transportierten. Dadurch schaffen wir eine Nord-Süd-Achse für den Wasserstofftransport, von der insbesondere Ost- und Süddeutschland profitieren.

Wann wird der Wasserstoff bis nach Hessen fließen?

Bereits 2025 wollen wir Wasserstoff von der Ostseeküste bis nach Rückersdorf in Thüringen transportieren. Bis 2028 soll die Umrüstung der Leitung bis Reckrod in Osthessen abgeschlossen sein. Der TÜV hat bereits erste Abschnitte der Pipelines untersucht und hat uns bescheinigt, dass ein großer Teil der Infrastruktur für den Wasserstofftransport geeignet ist. Theoretisch gäbe es die Möglichkeit, die Umstellung auf Wasserstoff schleichend zu vollziehen, indem wir Wasserstoff dem Erdgas beimischen. Unsere Projekte sehen aber aus kommerziellen und technischen Gründen vor, dass wir gleich reinen Wasserstoff liefern.

Reckrod in Osthessen ist weit entfernt von Kassel. Wird Nordhessen vorerst nicht mit Wasserstoff beliefert werden können?

Selbst wenn es Regionen gibt, wo erstmals keine großen Transportleitungen für Wasserstoff vorbeiführen, heißt das nicht, dass es dort keinen Wasserstoff geben wird. Wir sind im engen Dialog mit Netzbetreibern vor Ort, wie wir diese an unser Projekt anschließen können, zum Beispiel auch mit den Städtischen Werken Kassel. Denn wir speisen über unser Fernleitungsnetz Erdgas und künftig Wasserstoff in die Regional- und Verteilnetze ein. Ich denke, zwischen 2030 und 2035 wird Wasserstoff auch in der Fläche verfügbar sein. Dabei betrachten wir natürlich auch Nordhessen und große Industrieunternehmen, die den Wasserstoff für die eigene Dekarbonisierung benötigen werden.

Was ist mit VW in Baunatal?

VW in Baunatal verfügt über einen direkten Erdgasanschluss an unser Fernleitungsnetz. Dieser wurde ursprünglich zur Stromproduktion vor Ort genutzt. Diesen Bedarf könnte man künftig auch direkt mit erneuerbarem Strom decken. Grundsätzlich ist auch eine Stromproduktion mittels Wasserstoff möglich, allerdings kenne ich die Planungen von VW für Baunatal nicht.

Welche Industrien brauchen den Wasserstoff besonders dringend?

Zunächst mal solche, die nicht auf erneuerbaren Strom umstellen können. Das betrifft energieintensive Branchen mit Hochtemperaturprozessen, aber auch die Chemieindustrie und Stahlproduktion. Wenn es Interessenten und Nachfrage gibt, dann wird das deutsche Kernnetz für den Wasserstofftransport, das in diesem Herbst stehen soll, weiterwachsen. Die Entwicklung dieses Netzes ist anspruchsvoll, denn wir haben eine Henne-Ei-Problem vor uns: Die Produzenten brauchen Gewissheit, dass sie Abnehmer mit Wasserstoffbedarf erreichen. Die Abnehmer brauchen zugleich Gewissheit darüber, dass sie angeschlossen werden und ausreichende Wasserstoffmengen zur Verfügung stehen. Die Netzbetreiber wiederum werden nur dann anfangen, ihr Netz umzustellen, wenn Abnehmer und Produzenten auch investieren.

Das heißt, es braucht zunächst große Investitionen?

Wirtschaftlichkeit wird sich im Netzbetrieb für Wasserstoff in den ersten Jahren nicht sicherstellen lassen. Es gibt vorerst große Kapazitäten und eher wenige Kunden in dieser Hochlaufphase. Daher ist der Staat in Fragen der Entwicklung und Finanzierung stark involviert.

Im Zuge des neuen Gebäudeenergiegesetzes wurde viel über Gasheizungen diskutiert, die gleichzeitig Wasserstoff verbrennen können.

Der Ausstieg aus dem Erdgas wird nicht plötzlich stattfinden. Gleichzeitig sollte sich kein Hauseigentümer darauf verlassen, dass er in seinem Keller zeitnah eine Wasserstoffheizung betreiben kann. Vielleicht wird es einzelne Pilotsiedlungen geben. Mit Fernwärme und Wärmepumpe gibt es aber Alternativen. Wo der Wasserstoff im Wärmemarkt in Konkurrenz zu erneuerbarem Strom steht, schneidet er schlecht ab. In solchen Fällen ist eine Wärmepumpe meist effizienter. Ob tatsächlich irgendwann in dem einen oder anderen Keller Wasserstoff verbrannt wird, ist aber heute für uns noch nicht entschieden. Jetzt geht es erst mal darum, ein Kernnetz zu realisieren.

Was bedeutet die Umrüstung auf Wasserstoff für die Erdgaskunden?

Die Erdgaskunden werden selbstverständlich weiter beliefert. Stadtwerke müssen insbesondere Privathaushalte noch viele Jahre mit Erdgas versorgen können. Wo wir parallele Röhren haben, da geht das problemlos. In anderen Teilen kooperieren wir mit anderen Netzbetreibern.

Aber ist ein paralleles Netz von Gas- und Wasserstoffleitungen überhaupt wirtschaftlich?

Irgendwann kommt der Punkt, an dem es nur noch ein Wasserstofftransportnetz geben wird. Vermutlich werden nicht alle derzeit betriebenen Gasleitungen darin aufgehen. Die Stadt Kassel wird unter anderem über unsere Fernleitung „Midal“ versorgt, die direkt an der Stadt vorbeiführt. Große Gasmengen beziehen wir seit Beginn des Ukraine-Krieges aus den Niederlanden und Belgien, wo es von LNG-Terminals eingespeist wird. Außerdem arbeiten wir gerade daran, LNG-Mengen an der Ostsee in unser Netz einzubinden. Diese Mengen benötigen wir auch in naher Zukunft für unsere Versorgungssicherheit. Weil Klimaziele ebenso wichtig sind, sprechen nicht über ein Entweder-Oder. Wir brauchen mittelfristig sowohl Wasserstoff als auch noch Erdgas.

 Dennis Wehmeyer (42) ist Fachbereichsleiter für Wasserstoff und Nachhaltigkeit beim Kasseler Unternehmen Gascade. Der Volkswirt aus Kassel ist verheiratet.  

 Dennis Wehmeyer (42) ist Fachbereichsleiter für Wasserstoff und Nachhaltigkeit beim Kasseler Unternehmen Gascade. Der Volkswirt aus Kassel ist verheiratet.  bal

Foto: Dennis Blechner/nh