Geschichte und Geschichten – Hier fängt das Fettkraut Insekten – WLZ 14. 07. 1962

Wandert man durch den prächtigen Laub- und Mischwald des Dalwigker Holzes und geht auf sandigen Feldwegen zwischen Äckern hindurch in die flache Talsenke, die sich an Meineringhausen vorbei zum Werbetal bei der Alrafter Klippmühle hinzieht, bietet sich dem Naturfreund auf einem kleinen Stück sumpfiger Wiese am Anfang dieses Grundes ein reizvolles und eigenartiges Pflanzenleben. Hinter dichten Buschgruppen und einem schmalen Fichtenstreifen dehnt sich eine recht feuchte, kalkhaltige Moorwiese. Manchem Kleinod unserer heimischen Flora können wir hier begegnen. Meist sind es Pflanzen, die einen gut durchtränk­ten Boden lieben, aber nicht immer durch lebhaft gefärbte Blüten aufzu­fallen brauchen. Oft verbergen sie sich im Gewirr hohen Pfeifengrases. Man muß schon Geduld haben, um jenen etwa quadratmetergroßen Fleck zu finden, der dicht mit merkwürdigen gelbgrünen Blattrosetten bedeckt ist.

Es sind die dickfleischigen Blätter des Fettkrautes, das zu den wenigen fleischfressenden Vertretern der Pflan­zen unserer Heimat zählt. Auf der Oberseite seiner breiten Blätter sitzen größere, schleimabsondernde Fanghaare neben kleinen Verdauungshaaren. Winzige Insekten, die sich auf das Blatt setzen, bleiben in dem Schleim “ kleben.“ Der Blattrand rollt sich ein; Verdauungssäfte werden von den Samen ausgeschieden und so das in einer zähen Masse erstickte Insekt verzehrt. Die violetten Glöcklein-Blüten machen das Fettkraut, trotz seiner etwas un­heimlichen Eigenschaften zu einem schönen, wenn auch sehr seltenen Schmuck stickstoffarmer Moorwiesen. Überrascht wird der Pflanzenkenner sein, wenn er hier auf eine Primelart trifft, deren Heimat eigentlich der Norden Europas und das Alpengebiet ist. Es ist die rosarot blühende Mehlprimel, die sich auf die Sumpfwiese zwischen Meineringhausen und Lauterbach entweder durch menschliches Zu­tun oder durch Verschleppen beim Vo­gelflug verirrt hat. Kommt man an einem hellen Tag um die Mittagsstunde hierher, überrascht uns ein besonders schöner Anblick. Aus dem Rasen trockenerer Wiesenteile leuchten, dicht gehäuft, die kleinen, lebhaft rosa ge­färbten Blütensterne des Tausend­güldenkrautes, eines nicht gerade läufigen Enziangewächses. Nur für wenige Stunden über Mittag öffnen sich seine Blüten. Sobald sie geschlossen sind, müssen wir schon recht genau suchen, um das zierliche Pflänzchen zu entdecken. Ähnlich geht es uns mit dem Sumpfdreizack, dessen dünne Stengel in lockerer Traube winzige Blü­ten mit roten Narbenpinselchen tragen. Der merkwürdige Name rührt von den mit drei schmalen Klappen aufsprin­genden Früchten her. An den feuchteren Stellen dehnen sich geschlossene Bestände hoher Ried­gräser. Gibt sich das Sumpfherz­blatt durch seine strahlend weißen Blüten schnell zu erkennen, verbirgt sich ein düsterer Gesell aus der Gruppe der Farnkräuter ganz im dichten Unter­wuchs der Seggen, Simsen und Binsen. Die Höhe dieses kleinen, nur aus einem zugespitzten, ledrigen Blatt und einem Stengel mit den Sporen bestehenden Farnes — Natternzunge genannt — schwankt zwischen drei und zwölf Zen­timetern. Sumpfdotterblume, Margueriten, Glockenblumen, bizarre Dolden­blütler und die glutroten Blütenaugen des Sumpfstorchschnabels bilden den alltäglichen Rahmen für die Besonder­heiten, die auf dieser Moorwiese vor­erst noch ungehindert ihr Dasein fri­sten. Zur Mittsommerzeit entfalten Knabenkräuter, die rot- und weißblü­hende Form der echten Sumpfwurz und das eiförmige Zweiblatt ihre Blü­tenstände, vor allem aber die auf die­sem Fleckchen Erde bis zur Spazier­stockgröße heranwachsenden, stark nach Vanille duftenden Blütenstände der Händelwurz. Einen prächtigen Schmuck bilden entlang der wenigen Rinnsale, oft von Erlen verdeckt, die dunkelblauen Blütenrispen des Eisenh u t e s, der sich hier, wie im Upland als Überrest aus einer sehr kalten Zeit erhalten hat. Auch zwei Wollgras­arten geben in den Wochen ihrer Fruchtreife dieser Sumpfwiese einen reizvollen Anblick.
Schlagen wir alte Pflanzenverzeich­nisse unserer Heimat auf, müssen wir leider feststellen, daß vor Jahrzehnten noch die Pflanzenzusammensetzung auch der Meineringhäuser Sumpfwiese noch reichhaltiger war als heute. Es wird also höchste Zeit, auch dieser eigenarti­gen Pflanzengemeinschaft den Lebens­raum zu erhalten. Diese Aufgabe ist verpflichtend und schön zugleich.  

Den Verfasser und Zeichner, Helmut Ulrich, habe ich ab den 1980er Jahren fast wöchentlich besucht.
Er war der Sohn des Höringhäuser Pfarrers August Ulrich (1930 – 1933) und dessen Vaters, des Höringhäuser Hauptlehrers Chr. Ulrich (1894 – 1923).