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Geschichte und Geschichten : Ein Waldstück wie vor tausend Jahren 

Im Upland wachsen Alpenjohannisbeere, Schuppenwurz und Silberblatt.
Von Helmut Ulrich in der WLZ am 29. 06. 1963 veröffentlicht.
Den Verfasser Helmut Ulrich, habe ich in den 1980er Jahren bis zu seinem Tode wöchentlich besucht.  Er war der Sohn des Höringhauseners Pfarrers August Ulrich (1930 – 1933) und dessen Vaters, des Höringhauseners Hauptlehrers Chr. Ulrich (1894 – 1923).

Ein Waldstück wie vor tausend Jahren

Unsere heutige Landschaft mit ihrer Pflanzenwelt trägt nicht mehr die Züge eines Bildes aus der Urzeit. Aus einer Naturlandschaft ist eine Kulturlandschaft geworden. Wie auf einem Schachbrett wechseln farbige Flecken miteinander ab und bilden ein buntes Durcheinander in vielerlei Farbtönen. Kaum ein Eckchen ist herrenlos oder unbebaut, und nur noch eine bescheidene Flora von Wildpflanzen hat sich an Raine, Wegränder, Steilhänge, Felsabstürze oder in sumpfige Gebiete zurückgezogen.
Um nun eine von Einwirkungen des Menschen einigermaßen unberührte Pflanzengesellschaft kennenzulernen, müssen wir schon suchen, glücklicherweise in Waldeck noch mit Erfolg. Auf den Trockenrasenhängen der Korbacher Hochfläche, des Werbetales, im Ederseegebiet, bei Buhlen und Giflitz, auch in einigen unwegsamen Partien im Orke- oder Wattertal, an den verlan­denden Ufern weniger Teiche, in flachmoorigen, vertorften Erlenbrüchen, be­sonders auf den Hochheiden des Uplandes und an seinen Bächen, die uns ja die landschaftlich schönsten Täler schu­fen, die wir in der näheren Umgebung besitzen. Selbstverständlich haben auch die vielfach gewundenen Bachläufe des Uplandes keinen Urwald mehr an ihren Ufern, aber an geheimnisvollen und be­wundernswerten Winkeln des Wald­domes fehlt es dort „oben” nicht. Überall hat zwar der Mensch den Waldboden in seinen Dienst gezwungen und auf ihm einen geregelten Forstbetrieb mit leider allzu ausgedehnten „Stangenholz­fabriken“ geschaffen, in denen die so wichtige Bodenflora vernichtet wurde. Trotzdem dürfen wir froh sein, daß im oberen Strycktal von der Einmüdung der Hennecke ab durch Landschafts- ­und Naturschutzbestimmungen der menschlichen Kultivierungs-wut  auf Wiesengründen und Waldhängen teil­weise Einhalt geboten worden ist. Aber schon unterhalb dieser „Grenze“ — etwa 150 bis 200 Meter links der Mühlenkopf­schanze (wenn man vor ihr im Auslauf steht) — hat die Natur allen forstlichen Betätigungen ein Schnippchen geschla­gen.
Der Ettelsberghang ist nämlich an dieser Stelle so steil und von einer schroffen, kantigen Schieferwand mit anschließen-dem Schotterhang unter­brochen, daß man hier wachsen lassen mußte was wuchs.
Quellig und feucht, auch im Sommer merklich kühl, ist diese Partie, die uns auf kleinem Raum lebenden Anschauungs-unterricht über eine noch fast na­türliche Waldzusammensetzung gibt. Buchen überwiegen, und beigemischt sind Bergahorn, Bergulme, Esche, Weiß­tanne, Vogelbeere und Haselstreucher. An lichten Stellen hat sich auch der auf Kahlschlägen überall verbreitete wilde Holunder angesiedelt Das eindrucks­vollste Bild dieses Schluchtwaldes bietet aber die Felsgruppe, über deren Wasser­ überrieselte, moosige Zacken bis zu fünf, sechs Meter lang die ästigen Zweige der Alpenjohannisbeere hängen, die hier eine Zufluchtsstätte gefunden hat und sich offensichtlich recht wohl fühlt, ebenso wie die üppigen Moospolster, Flechten und kleinen Farne, die sich in den Gesteinsspalten und auf nassen Schieferplatten ausbreiten.
Ehe im ersten Frühling das Baumgrün hervorbricht, fängt es auf dem Erd­boden an zu sprießen. Zuerst recken sich die spannenlangen Blattsträuße des Ringelkrautes mit ihren unscheinbaren, grünlichen Blütenrispen empor. Verein­zelt ragt hier und da der betörend süß duftende hellrote Blüten-stand eines Sei­delbastes. Hinzu gesellen sich vereinzelt rote und weiße Blütentrauben des Ler­chensporns, wunderliche, kapuzenartige Aronstabblüten, der als Gewürzpflanze begehrte Waldmeister, Veilchenarten, Waldsternmieren und seltener das saftig-grüne gegenblättrige Milzkraut, übrigens eine der wenigen Pflanzen der heimischen Flora, bei denen die Bestäu­bung der Blüten durch kleine Schnecken besorgt wird. Schließt sich das Laub­dach, gewinnt das Blättermeer der Farne Überhand; in buntem Wechsel mischen sich zwischen die bekannten Arten hier auch der Bergschildfarn, der dornige und stachelige Schildfarn. Die blaßblau blühende Zahnwurz belebt die dunkelgrüne Fläche um den Felsvor­sprung ebenso wie die weißlichen Blu­tenstände des Spring-Schaumkrautes, des Christophskrautes, des Alpenhexen­krautes oder die leuchtend gelben Schaukelblüten des „Kräutleins Rühr- mich-nicht-an“. Zu den typischen Wald­pflanzen höherer Gebirge gehören auch die weiße Pestwurz, die recht seltene breit-blättrige Glockenblume, das spitze Silberblatt, dessen pergamentartige, glänzende Fruchtstände meist den Winter überdauern und im Frühsommer wieder dem Wachsen ihrer Nachkommen zuschauen, und die oft mannshohen Stauden von Fuch‘s Greiskraut mit ihren schwefelgelben Blütentellern. Doch der geheimnisvollste „Bursche“ dieser Schluchtwald-Gesellschaft ist die bleiche, blattgrünlose, auf Wurzeln an­derer Pflanzen schmarotzende Schuppenwurz, die sich in der halbdunklen Umgebung dieses nahezu ursprünglichen Schluchtwaldes unserer Heimat sehr wohlfühlt, dem Sie bei einem Uplandspaziergang ruhig einmal eine halbe Stunde widmen sollten. Es lohnt sich!



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