2024 WLZ 28. 06. Alte Rechte dank der „Insellage“ bewahrt

Die Eigenständigkeit und die Freiheiten des Dorfes Höringhausen – Erster Teil

VON HEINRICH FIGGE

Heute inmitten Waldecks, früher „Ausland“: Höringhausen war für lange Zeit eine Exklave Hessens und ab 1866 Preußens. Dank der „Insellage“ konnte sich das Dorf eine gewisse Eigenständigkeit und seine Freiheiten bewahren. Hier ein Luftbild aus dem Jahr 2019. Foto: Hans Blossey/imago

Höringhausen ist historisch gesehen etwas Besonderes. Bis zum Zusammenschluss Waldecks mit Preußen 1929 bildete das Dorf wie das 1000-jährige Eimelrod mit Deisfeld und Hemmighausen eine Exklave mitten in Waldeck. Aber noch etwas ist ungewöhnlich: Über Jahrhunderte hat sich das Dorf eine gewisse Eigenständigkeit und seine Freiheiten bewahrt.
Über die „Dörfliche Eigenständigkeit und Initiative am Beispiel Höringhausens“ hat der 2019 gestorbene Historiker und Marburger Archivar Professor Gerhard Menk 1989 in einem Beitrag für die „Geschichtsblätter für Waldeck“ geschrieben. Darin geht er auch auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Dorf Höringhausen und der dort mit Besitz ausgestatteten Adelsfamilie Wölffe von Gudenberg ein – es ging um die Gerichtshoheit, das Fron- und Dienstgeld und die Dienstpflichten. Schließlich kam es zu einem Vergleich, der für das Dorf von einem erheblichen Vorteil war.
Zum Dasein als Exklave zitiert Menk ein französisches Gutachten aus der napoleonischen Zeit, in der der Autor 1807 über so einen „Staat im Staate“ nachdenkt:
„Aber die Nachteile, die daraus resultieren, dass ein Souverain Enklave-Besitzungen im Staat eines anderen hat und die einen Staat im Staat bilden, sind in der ganzen Welt bekannt.“
Zur Eigenständigkeit Höringhausens schreibt Menk:
„Während sich die herrschaftlichen Bedingungen für Höringhausen ständig veränderten, blieb allein die Gemeinde selbst als fester, offenbar ganz in sich selbst ruhender Pol erhalten.“
Das Dorf habe gerade wegen seiner „Insellage“ seine alten Rechte und Freiheiten gegen die Obrigkeit durchgesetzt, was ein Ausnahmefall für hessische Verhältnisse sei. Selbst bei den erfahrenen Juristen größerer Territorien habe „eine Unsicherheit über den Ort“ vorgeherrscht.
Über Höringhausen gibt es im Marburger Staatsarchiv noch immer viele nicht erschlossene und ausgewertete Quellen. In den 1980er-Jahren übergab mir der Höringhäuser Heimatforscher Friedrich Sauer alle seine Unterlagen und bat mich, vier Konvolute über die „Wölffe von Gudenberg“ im Staatsarchiv nach Unterlagen über Höringhausen durchzusehen.
Ich erfuhr in Marburg, dass noch 96 Konvolute vorhanden seien. Heinz Mettenheimer, Herbert Dreier und ich haben in mehreren Wochen auf rund 60 Filmrollen Urkunden und Schriftstücke über Höringhausen abfotografiert. Nur die Hälfte der Filme sind entwickelt, nur ein kleiner Teil ist übersetzt worden. Die Unterlagen habe ich in Archiv-Kartons grob einsortiert und am 24. März 2020 im Archivraum des Höringhäuser Heimatmuseums eingelagert – siehe zu dieser aufwendigen Quellensuche auch Mein Waldeck 22/2021.
In seinem Beitrag schreibt Prof. Menk von einem „kleinen, vergessenen Dorf“. Nach alten Unterlagen war es jedoch das größte Dorf in der Herrschaft Itter. Im Darmstädter Salbuch 1625 wird es nicht erwähnt, aber in seiner „Kurzen historische Nachricht von den Herren zu Itter“ zitiert Johann Adam Kopp 1751 einen älteren archivalischen Bericht, in dem die Dörfer der Herrschaft Itter aufgezählt werden – an letzter Stelle kommt Höringhausen, das sei das „allerbeste“ Dorf, in dem die Wölffe auszögen und sagten es sei ihr Erbe – sie hatten es aber nur als Lehen der Landgrafen von Hessen erhalten.
1568 stellte der Höringhäuser Pfarrer Christoph Lampert mit zwei Kastenmeistern ein „Inventarium“ der Kirche auf, also eine Art Salbuch. Die Gemeinde wollte wohl Klarheit schaffen, erhielt die Höringhäuser Sankt-Johannis-Kirche doch Zins-Abgaben vom größten Grundbesitz an Ackerland und Wiesen im Dorf, der größer sei als der Besitz der Wölffe von Gudenberg. 1664 wurde ein zweites „Inventarium“ aufgestellt.
Ein Zehntrecht haben nur die alten Kirchen besessen: Gerade Bauern hatten die Abgabe in Naturalien zu leisten, später auch in Geld. Ab dem 13. Jahrhundert verloren es die Pfarreien in Hessen schrittweise – bis auf geringe Ausnahmen. Diese Einnahmequellen hätten sich die Adelsgeschlechter angeeignet, schreibt Alfred Emde in Mein Waldeck 22 / 1986.

Langer Streit um die Landeshoheit über das Dorf

Höringhausen wird 1264 als „Hogerinchusen“ in einer Urkunde des Bredelarer Klosters erwähnt. 1267 übereignete der kinderlose Sigebodo von Itter dem Kloster seinen „curtis“ – also Hof – in Höringhausen. Im Mittelalter hielt auch das Kloster Corvey Besitzungen.
Das Dorf gehörte den Grafen von Ziegenhain. 1314 gaben sie es den Edelherren von Itter als Lehen. 1326 verpfändeten die Herren die Vogtei, das Gericht und das Kirchenpatronat in Höringhausen an die Grafen von Waldeck. Die erhielten im selben Jahr zudem den Hof der Bredelarer.
Zwischen 1356 und 1590 war die Landesherrschaft über Höringhausen umstritten – die Landgrafschaft Hessen, das Erzbistum und Kurfürstentum Mainz und die Grafschaft Waldeck erhoben Ansprüche auf das Dorf.
Die Grafen verpfändeten Höringhausen 1362 an Arnold IV. Wolff von Gudenberg – seine Nachkommen hielten den Besitz bis 1856.
Die nordhessische Ritter-Familie gehörte dem Dienstadel an, sie stellte Landesherren wie den Landgrafen von Hessen oder den Mainzer Bischöfen Amtmänner und Räte. Für ihre Dienste erhielten sie Lehen, sie sammelten aber auch eigenen Besitz.
Nachdem die Herren von Itter 1356 ausgestorben waren, teilten Mainz und Hessen das Erbe auf. Die Mainzer verpfändeten ihre Hälfte 1359 dem Grafen Otto II. von Waldeck – sein Sohn Heinrich VI., genannt „der Eiserne“, verpfändete sie 1381 an Thile I. Wolff von Gudenberg, dem Sohn Arnolds. Die Landgrafen von Hessen verpfändeten ihrem Lehnsmann ihren Teil der Herrschaft 1383. Thile verfügte so über die Itterburg in Thalitter, Gut Lauterbach und das Schloss in Vöhl.
Weil die Familie die Herrschaft auspresste, kündigten das Bistum Mainz und die Grafschaft Waldeck 1542 den Pfandvertrag, Hessen schloss sich 1562 an. Sie erzwangen den Verzicht auf die Pfandschaft. Die Wölffe gingen dagegen vor Gericht, von 1544 bis 1584 dauerten Verhandlungen und Streitigkeiten. Die Wolff von Gudenberg bekamen als Ausgleich für den Verlust der Herrschaft 1568 von Hessen das halbe und 1584 das ganze „Mannlehen“ über Höringhausen.
Dorthin zog sich die Familie zurück. Die Wölffe wohnten seit 1362 in einer Wasserburg, die vielleicht die Grafen von Ziegenhain erbaut hatten. Ab 1581 bewohnten sie auch die zweite Wasserburg. Außerdem besaßen sie zwei, ab 1584 drei Güter und drei Mühlen in dem Dorf.
Höringhausen blieb aber hessisch und wurde zum Spielball der Familienstreitigkeiten. Nach der Teilung der Landgrafschaft kam es 1585 zu Hessen-Marburg, 1604 bis 1648 stritten Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt ums Dorf, 1627 wurde es wie Itter ein Teil Darmstadts.
In der Zeit Napoleons und des Rheinbundes versuchte Prinz Georg zu Waldeck und Pyrmont, sich die beiden Exklaven Eimelrod und Höringhausen für das Fürstentum zu sichern – vergeblich, sie blieben Darmstädtisch – bis die Preußen 1866 das „Hinterland“ mit dem Kreis Vöhl übernahmen und auch Höringhausen preußisch wurde.
1929 wurde es dem Waldecker Kreis Eisenberg zugeschlagen, der 1942 zum Kreis Waldeck vereinigt wurde.

Bauerngericht und Holzgericht bestehen fort

Die Eigenständigkeit und Freiheiten des Dorfes Höringhausen

Das erste Salbuch der Gemeinde trägt den Titel „Inventarium aller Güther der Kirchen zustendig. Anno Domini 1568, den 9. octobris Invertiert. CHRISTOPHORY LAMPERTUS Horinghusianus Pastor.“

Das zweite Salbuch aus dem Jahre 1664 besteht aus 84 Seiten, die zum Teil nur lose Blätter sind. Der Umschlag ist stark beschädigt. Die Eintragungen sind die gleichen wie im ersten Salbuch, sie weichen nur insofern voneinander ab, als im Salbuch 1664 zuerst die Namen der Nutznießer im Jahre 1568 eingetragen sind.

Erna Stracke hat nach dem Höringhäuser Flurbuch aus dem Jahr 1704 alle Flächen errechnet. Dort findet sich ein Grundstück „Zum Netzer Hof gehörig“ – auch „Netzer Höfe“ genannt. Das Land umfasst etwa 200 Morgen und war im Besitz der Herren von Itter. Um etwas für ihr Seelenheil zu tun, hatten sie die halben Erträge dieses Landes dem Netzer Zisterzienserinnen-Kloster übertragen. Der Konvent hatte von den Grafen von Waldeck und niederen Adelsfamilien viele Zuwendungen bekommen. Der Zehnte ging nach der Auflösung des Klosters in der Reformationszeit an die Wölffe von Gudenberg.

In den juristischen Streitigkeiten zwischen den Wölffen und den Waldecker Grafen um die Herrschaft Itter von 1554 bis 1565 geht es in einem Protokoll des hessischen Hofgerichts in Gießen auch um die „Eigenständigkeit“ oder die „Freiheiten“ der Höringhäuser.

In Punkt 12 werden die Wölffe aufgefordert, ihre Rechte bezüglich des Dorfes Höringhausen darzulegen. Auch Aussagen von benannten Zeugen werden angeführt.

Ab Punkt 31 geht es um Höringhausen, das keine gemeinsame Grenze mit der Herrschaft Itter habe, sondern seit jeher und augenscheinlich ein Außenbezirk der Herrschaft Itter sei.

Punkt 36 hält fest, das Dorf Höringhausen habe seit undenklichen Jahren seine eigene Grenze und Feldmark.

Punkt 37 erwähnt, in der Höringhäuser Feldmark liege die Wüstung Wammeringhausen. Sie verfüge über 16 „Höws“, also Höfe, die von Einwohnern zu Höringhausen bestellt würden.

Nach Punkt 39 muss das Dorf den Wölffen und etlichen Bürgern von Corbach jährlich Abgaben leisten.

Laut Punkt 41 liegt in der Höringhäuser Gemarkung auch die Wüstung Rischkartshausen oder Rissinghausen mit fünf „Hows“, die von den Höringhäusern „befrüchtigt“ werden.

Ab Punkt 44 werden die besonderen Rechte und Freiheiten des Dorfes Höringhausen aufgeführt:

■  Es bestehe „Gerechtigkeit und Freiheit in der Feldmark von alters her“,

■  es bestehe das jährliche Holzgericht, das auch die Rechte der Wammeringhäuser Höfe wahren muss,

■  das Dorf Höringhausen habe sein eigenes „Gehölz und Gesträuch“ und eine gemeinschaftliche Berechtigung, das Holz für sich zu nutzen.

In Punkt 50 heißt es daher:

„Item das aber das Dorf Höringhausen solche Freiheit in den Itterschen Gehölzen gleich dem Itterschen Untertanen nicht gehabt, sondern wenn Ihnen Holtz von nötens gewesen, haben sie das dem Wolffen als Inhaber der Herrschaft Itter jederzeit […] und gleich anderen Fremden [… in] baar geldes bezahlen müssen.“

Mit anderen Worten: Alle anderen Untertanen mussten das benötigte Holz ebenso wie alle Fremden an die Herrschaft bezahlen. Die Höringhäuser hatten aber ihr eigenes „Gehölz und Gesträuch“.

Ein Freies Bauerngericht und ein Holzgericht sind Zeichen einer Markgenossenschaft. In alten Höringhäuser Schriften ist von „Märkern“, Markmeistern und „Ausmärkern“ zu lesen. Ausmärker hatten in der Höringhäuser Gemarkung Land, kamen aber von außerhalb.

Ein Freies Bauerngericht sorgte für Gerechtigkeit und Ordnung. Für die Verwaltung der Gemeindewälder gab es ein „Holzgericht.“ Das waren Zeichen der „Markenhoheit“ und der „Eigenständigkeit“.

In der Gemarkung gab es sieben Siedlungen, davon zwei kleine Dörfer, und drei Mühlen. An vier Tagen im Jahr durfte ein Markt abgehalten werden: am 25. Februar, 12. Mai, 13. Juni und am 2. November. Diese Märkte waren auch aus dem waldeckischen Umland gut besucht.

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„Mein Waldeck“ ist die Heimatbeilage der Waldeckischen Landeszeitung. Verantwortlicher Redakteur: Dr. Karl Schilling. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages Wilhelm Bing.

Der Sohn des Höringhäuser Pfarrers August Ulrich, Helmut Ulrich, war der Maler dieses Bildes.
Er verfasste auch den Bericht über die Einweihung der neu erbauten Kirche, erschienen am 21. Januar 1956 in der Waldeckischen Landeszeitung    

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