2024 WLZ 20. 08. Von der Kirchweih zur Zeltkirmes

Netzer Heimatforscher erinnert zum 50-jährigen Jubiläum an Geschichte

VON JÖRG SCHÜTTLER

Aus dem Fotoalbum: Kirmes Netze um das Jahr 1990. Fotos: pr

Waldeck-Netze Am Wochenende jährt sich zum 50. Mal die Zeltkirmes in Netze. Die Geschichte reicht jedoch wesentlich weiter zurück: Der Netzer Heimatforscher Karl Kann fand heraus, dass die Feier – früher Kirchweih genannt – im Ort eine jahrhundertelange Tradition hat. Einst wurde sie im Spätherbst gefeiert. Fritz Klug war zusammen mit Reinhard Rausch der erste Kirmesvater der Zeltkirmes, an deren Beginn er sich hier erinnert:
In den 1960er Jahren wurde die Netzer Kirmes abwechselnd im Saal der Gasthäuser Heck und Brand gefeiert. Veranstalter war der Sportverein. Die Räume waren beengt, eine Ausweitung der Feier nicht möglich.
1973 feierte der MGV „Liedertafel 1882“ mit einem Jahr Verspätung sein 90-jähriges Bestehen mit einem kleinen Sängerfest im Festzelt auf der Wiese vor der ehemaligen Schule. Das Singen fand in einer dafür hergerichteten Tenne der großen Feldscheune statt. Dadurch war es vom Festtrubel getrennt. Die Bewirtung erfolgte erstmalig in Eigenregie.
Für die Organisation war Klug als Vorstandsmitglied mit zuständig. Schon während des Festes reifte der Gedanke, auch die Kirmes in einem Festzelt auf dem alten Sportplatz zu feiern. Mitstreiter waren schnell gefunden. Allen voran Reinhard Rausch, der zusammen mit Klug unter den Interessenten – alle noch nicht volljährig und damit nicht geschäftsfähig – um Motivation und Vertrauen warb. Es mussten noch einige „Volljährige“ gefunden werden, die die nötigen Verträge unterschreiben durften. Karl-Heinz Auritz hat sie unterzeichnet. Es sollte etwas Besonderes geschaffen werden. Zelt und Kapelle bedeuteten damals große Verantwortung der Akteure. In Anbetracht der Risiken schrumpfte auch schon mal die Gruppe der Kirmesburschen.
Am letzten Wochenende in August 1974 war es soweit. Das Fest begann bei gutem Wetter. Es hat alles wie geplant geklappt. So wuchs das Zelt in den folgenden Jahren bis auf 55 Meter. Einer der Höhepunkte waren die Birkenfelder Musikanten, die über mehrere Jahre die Kirmes bravourös mitgestalteten. Damals war das Zelt bereits um 20 Uhr voll besetzt. Bei den ersten Klängen der Kapelle standen schon Besucher auf den Bänken.
In den ersten zehn Jahren wurden immer neue „Highlights“ gesucht und ausprobiert. Das Bier kam inzwischen aus einem Container mit zwei 2500 Liter-Kammern. „Beim Umschlagen des ersten leeren Containers wurde ich damals fast in das angrenzende Kartoffelfeld gedrückt“, erinnert sich Klug. Zu dieser Zeit hatten die Kirmesburschen für ein unterirdisches Leitungsnetz gesorgt, sodass die Kellner-Theke an der gegenüberliegenden Seite immer versorgt war.
Am Montag lockte das Spanferkelessen. Zur Feierabendzeit bei der benachbarten Firma Mauser in Waldeck waren alle Sitzplätze belegt, und das Schweinefleisch fand reißenden Absatz. Den speziell für diese Aktion hergestellten Grill mit Getriebe und Waschmaschinen-Antrieb gibt es heute noch. Er ist erst am Vorabend der Kirmes fertig geworden; andere Antriebe hatten dem Dauerbetrieb nicht standgehalten. In den Jahren 1984 und 1985 hatte Rausch sogar einen Autoscooter aufgeboten.
Ausschließlich junge Männer waren in den ersten zehn Jahren bei den Kirmesburschen. Die Mädchen haben jedoch tatkräftig geholfen. Später haben sich auch Mädchen der Verantwortung gestellt und es wurde der Kirmesverein gegründet.

Party wie auf Malle und „Biertalk“ mit zwei Ministern

Netze steht am Wochenende im Zeichen eines Jubiläums: Vom 22. bis 26. August wird die 50. Zeltkirmes gefeiert. Auftakt ist der politische Biertalk mit Fassanstich am Donnerstag, 18 Uhr, mit Kultusminister Armin Schwarz und Landwirtschafts- und Umweltminister Ingmar Jung (beide CDU). Unter den Gästen sind auch Landtagsabgeordneter Jan-Wilhelm Pohlmann (CDU) und Bürgermeister Jürgen Vollbracht.
Am Freitag sorgen beim Bacardi-Abend die Würzbuam mit Party-, Rock- und Volksmusik für Stimmung. Am Samstag findet ab 11 Uhr das Ständchenspielen statt, bevor abends unter dem Motto „Oktoberfest meets Malle“ die „Partyräuber“, die schon Auftritte auf dem Münchner Oktoberfest und den Cannstatter Wasen hatten, im Zelt einheizen. Weiterer Höhepunkt des Abends ist der Auftritt von Nancy Franck, einem „neuen Stern am Partyhimmel“, kündigt Julia Gerhard als Vorsitzende des Kirmesvereins an. Für die junge Sängerin aus Aachen, die ihr Publikum mitreißen will, kam 2019 der Durchbruch, als sie mit dem Newcomer-Award des Bierkönig-Festivals ausgezeichnet wurde.
Höhepunkt des Sonntags ist ab 14 Uhr der Festumzug mit bunten Motivwagen, anschließend sorgt DJ Yannic für Stimmung im Festzelt. Für das leibliche Wohl wird neben Kaffee und Kuchen auch wieder Spanferkel angeboten – wie in den Anfangszeiten der Kirmes. Mit dem Dorfabend mit einem Jubiläums- und Überraschungsprogramm klingt am Montag die Kirmes aus. Höhepunkte sind dann eine Diashow mit historischen Kirmesfotos, ein Auftritt der alten Kirmesburschen sowie einige Sketche. sj

HINTERGRUND
Die „Kirmeß“

Der Historiker Louis Curtze (1807-1870) schreibt in seiner 1850 erschienenen „Geschichte und Beschreibung des Fürstenthums Waldeck“, dass die Kirmessen in der Regel am Sonntag begannen: „Die jungen Burschen tragen gewöhnlich bei einem Umzuge eine von Waizenmehl gebackene Puppe an einer Stange mit Musik im Dorfe herum, erbitten sich von den jungen Mädchen Bänder an ihr Backwerk, und von den Hausfrauen Eier, Wurst etc. Nachmittags findet im Freien Musik und Tanz statt. In einigen Dörfern an der Eder (Netze) wird die s. g. Kirmeß (ein Stock) am Ende der Feierlichkeit unter Jubel, wie man sagt, begraben, und ein ander Jahr wieder geholt.“  sj